
Vom Baum in die Latwerge
Rund um die Birne
Ylva Schwinghammer (2018)
Neben Äpfeln und Kirschen, die in den meisten bäuerlichen Gärten des Mittelalters zu finden waren, dürften auch Birnen bereits früh zu den beliebtesten heimischen Obstsorten gezählt haben, wovon neben der Verwendung in der poetischen Literatur (etwa als beliebte Metapher für die weibliche Brust) zahlreiche medizinische, kulinarische und alltagspraktische Erwähnungen zeugen. In Berufung auf antike Quellen schreibt etwa Konrad von Megenberg in seinem Buch der Natur der Wurzel des Birnbaumes, der Asche sowie den Früchten umfassende medizinische Wirkungen zu, so zum Beispiel bei Verdauungsbeschwerden, Übelkeit, Husten und Wunden. Auch im Tacuinum Santitatis, den sogenannten „Schachtafeln der Gesundheit“ ist der Birne ein eigener Abschnitt gewidmet: Wie Pfirsiche und Pflaumen werden sie gemäß der Temperamentenlehre als kalt im ersten und feucht im zweiten Grad beschrieben und galten daher für Menschen mit hitziger Komplexion, für Jugendliche, im Sommer und in südlichen Gebieten als besonders empfehlenswert. Neben der grundsätzlich positiven Wirkung reifer Birnen auf die Verdauung wird hier auch vor möglichen Schadwirkungen gewarnt, die besonders nach dem Genuss unreifer Birnen auftreten können: Verstopfung, Koliken und Kälte des Bauches. Diese können jedoch durch die Kombination mit anderen Lebensmitteln ausgeglichen werden. Birnen wiederum helfen nach dem Genuss von Zwiebel oder Knoblauch üblen Mundgeruch zu vertreiben und machen Pilze bekömmlicher, wenn sie gemeinsam gekocht werden.

Wirft man einen Blick in mittelalterliche Kochrezeptsammlungen, stellt man fest, dass Birnen auf unterschiedlichste Weise in der Küche Verwendung fanden, etwa in Form von Birnenmus, als Beigabe zu gebratenem Huhn, Füllung von Pasteten und Gänsen oder Bestandteil von Saucen und Senfzubereitungen.

Aus Birnen wurde nicht nur Wein hergestellt, man konnte die Früchte laut dem Pelzbuch Gottfrieds von Franken auch nutzen, um die Qualität eines Weines mittels der „Birnenprobe“ zu testen. Um herauszufinden, ob ein Wein gut ist, solle man eine Birne hineinwerfen: Schwimmt die Birne oben, stimmt die Qualität, sinkt die Birne jedoch auf den Grund des Gefäßes, wurde der Wein verwässert.
Neben Wildbirnen, die in vielen Teilen Europas zu finden waren und als kälter und schwerer verdaulich galten, kultivierten bereits die Römer unterschiedliche Birnensorten. Auch in mittelalterlichen Texten finden sich Anweisungen zur Pflanzung und Pflege des Baumes: So sollten Birnbäume am besten im Februar in tiefen, schattigen Lagen gepflanzt werden, da dies ihrem kühlen Naturell am ehesten entspräche. Gegen Schädlingsbefall empfahl man, im November Ochsengalle an die Wurzeln des Baumes zu gießen. Aus der Galle von Rindern gewonnene Präparate finden zwar bis heute Verwendung in Reinigungsmitteln, Künstlerbedarf und in der Bekämpfung bakterieller Infektionen, über eine landwirtschaftliche Nutzung gegen Wurmbefall von Bäumen ist jedoch nichts (mehr) bekannt. Aus heutiger Sicht ebenfalls eher mit Skepsis zu betrachten sind jene mittelalterlichen Rezepte, die von Bestrebungen zeugen, süßere oder unterschiedlich eingefärbte Birnen zu züchten, so empfahl man etwa den Stamm anzubohren und mit Konfekt oder Honig zu füllen, um den Geschmack der Früchte zu beeinflussen.

Birnen sollten vorsichtig geerntet werden, um Druckstellen zu vermeiden, die das Faulen beschleunigen. Frisch geerntete Früchte galten als weniger gut für die Gesundheit, als jene, die vor dem Verzehr noch eine Zeitlang aufbewahrt wurden. Um sie möglichst lange genießbar zu halten, werden in der mittelalterlichen Fachliteratur unterschiedliche Lagermöglichkeiten empfohlen: sorgfältig in Stroh gebettet, in Gefäßen im kühlen Brunnen, umhüllt mit einer dünnen Lehmschicht oder in Tonkrügen. Alternativ konnte man die Früchte auch dörren und die ‚Kletzen‘ im Winter zu Mus verkochen. Eine weitere Möglichkeit, nicht nur die vorteilhaften diätetischen Eigenschaften der Birne zu nutzen, sondern auch außerhalb der Saison Fruchtiges zur Verfügung zu haben, war die Herstellung von Latwergen. Dabei handelt sich um eine im Mittelalter verbreitete Arzneiform, die dem Kranken in breiiger bis flüssiger Form zum Auflecken gereicht wurde. Daher kommt auch der Name: „Latwerge“ stammt vom lateinischen electuarium (bzw. dem griechischen λείχειν) ab, was so viel wie „auflecken“ bedeutet. In der Kulinarik dienten dick eingekochte Fruchtlatwergen als eine Art Saucenbasis. Man könnte sie durchaus als ‚convenience food‘ bezeichnen, denn sie ermöglichten es dem Koch, aus seinem Vorrat zu jedem beliebigen Gericht im Handumdrehen eine köstliche und ‚wohltemperierte‘ Salse zu zaubern. (Mehr über Latwergen sowie unterschiedliche Rezepte kann man hier nachlesen).
Früchte, Honig oder Zucker und Gewürze sind die Grundzutaten für eine Fruchtlatwerge. Zubereitungsanleitungen gibt es in reicher Zahl in Arzneibüchern und Kochrezeptsammlungen des Mittelalters. Ein Rezept für eine Birnenlatwerge ist z.B. in der heute in Graz aufbewahrten Sammelhandschrift mit der Bezeichnung MS 1609 enthalten. Mit einer Gruppe von Schüler/innen der NMS Vorau sowie der HLW Schrödinger haben wir den Text ins Neuhochdeutsche übertragen und versuchsweise nachgekocht.

ITem wil dw machen ein ledtwaering von regelspieren so schel dye pieren schoen vnd sneyd sye czw viertailen vnd sneyd dy schon aus vnd thue dan dye pieren in einen haffen vnd secz es auff ain gluedt vnd gews dar an ein viertaill wasser vnd vermach den haffen das der tunst her aus nit gee wann sy den sein genug haben so stoes sy chlain vnd thue sye in einen chessel vnd secz sye auff ein dreyeffues vnd ein guet gluet dar vnter rueer sye fuerstar vnd yee peye ainer weil so gews ein winczig wasser daran vnd stuep sye wol ab mit gbuercz gueten so wird es guet.
Graz, UB, Ms 1609, fol. 17v-18r
Ebenso, wenn du eine Latwerge von Regelsbirnen machen willst, so schäle die Birnen sorgfältig und schneide sie in Viertel und schneide sie schön aus und gib dann die Birnen in einen Topf und setze ihn auf die Glut. Gieße ein Viertel Wasser dazu und verschließe den Topf, damit der Dampf nicht herausgeht. Wenn sie genug gekocht sind, stoße sie klein und gib sie in einen Kessel und setze sie auf einen Dreifuß mit guter Glut darunter. Rühre sie fortwährend und gieße von Zeit zu Zeit ein klein wenig Wasser dazu. Schmecke sie fein ab mit gutem Gewürz, so wird sie gut.
Ausgehend vom mittelalterlichen Rezept haben wir uns an eine moderne Adaption der Birnenlatwerge gewagt: Da wir die Latwerge nicht haltbar machen oder als Arzneimittel einsetzen wollten, haben wir uns für eine Variante in Form eines Fruchtmuses entschieden und Süßungsmittel nur in moderater Menge für den Geschmack, nicht zur Konservierung eingesetzt. Als Gewürze, die im mittelalterlichen Rezept nicht näher benannt werden, wurden Zimt, Nelken, Muskatnuss und Ingwerpulver verwendet. Dies schien nicht nur geschmacklich, sondern auch im Sinne der mittelalterlichen Humoralmedizin stimmig, da etwa dem Zimt eine warme und trockene Komplexion zugeschrieben wurde, mit der somit die Kälte und Feuchte der Birnen ausgeglichen werden konnte. Der Genuss von Birnen in Kombination mit Ingwer wurde aus ähnlichen Gründen speziell älteren Leuten empfohlen, für die Birnen ansonsten nicht als allzu bekömmlich galten.

Rezept
für 6-8 Portionen
- 2 kg Birnen
- 1/4 l Wasser
- ca. 3 EL Zucker oder Honig
- Zimt, Nelken Muskat und Ingwerpulver

– Birnen schälen, vierteln, vom Kerngehäuse befreien und zusammen mit dem Wasser in einen Topf geben.
– Bei mittlerer Hitze weichdünsten und die Masse anschließend mit Zucker oder Honig stampfen oder pürieren
– Bei geringer Hitze unter ständigem Rühren weiterkochen, bis die gewünschte Konsistenz erreicht ist. Erst am Schluss die Gewürze beigeben. Entweder als Mus servieren oder für Latwerge solange köcheln lassen, bis die gesamte Flüssigkeit verdampft ist und eine zähflüssige Masse entsteht. Diese auf ein Brett gießen, auskühlen lassen und wie Fruchtleder in Stücke schneiden.
VORSICHT: Will man Latwerge mit der Konsistenz von Fruchtleder herstellen, muss man einiges an Geduld mitbringen – Es dauert nämlich ziemlich lange, bis das Wasser verdampft ist und man muss tatsächlich ständig rühren und höllisch aufpassen, damit die Mischung nicht anbrennt! Will man die ausgekühlte Latwerge länger aufbewahren, empfiehlt es sich, sie in Stücke zu schneiden und in Puderzucker zu wälzen.
In der Variante als Mus ist die Birnenlatwerge nicht nur eine wohlschmeckende Beigabe zu einem mittelalterlichen oder modernen Menü, sondern auch durchaus ‚lagertauglich‘, wenn man wie wir in Vorau mit Kindern und Erwachsenen einmal im Kessel am offenen Feuer kochen möchte. Und wenngleich sich bei ernsthaften gesundheitlichen Beschwerden natürlich immer der Besuch beim Arzt empfiehlt, darf die Birnenlatwerge ruhigen Gewissens auch heute noch als Hausmittel zur Steigerung des Wohlbefindens zum Einsatz kommen.
Quellen
- Gerhard Eis: Gottfrieds Pelzbuch. Studien zur Reichweite und Dauer der Wirkung des mittelhochdeutschen Fachschriftums. Brünn, München, Wien: Rohrer 1944. (=Südosteuropäische Arbeiten. 38.)
- Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur: die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart: Aue 1861.
- Maister hannsen des von wirtenberg koch: Transkription, Übersetzung, Glossar und kulturhistorischer Kommentar von Trude Ehlert. Frankfurt/Main: Tupperware 1996.
- Zotter, Hans: Das Buch vom gesunden Leben. Die Gesundheitstabellen des Ibn Butlan in der illustrierten deutschen Übertragung des Michael Herr. Nach der bei Hans Schott erschienenen Ausgabe Straßburg 1533. Graz: ADEVA 1988.
- Zotter, Hans: Transkription des Kochbuchs im Grazer Hausbuch. URL: http://sosa2.uni-graz.at/sosa/druckschriften/dergedeckteTisch/pdf/ms1609/ms._1609_transkription.pdf [23.11.2018].
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